Im Paulusviertel führen gleich mehrere Straßenzüge auf ein einziges, beeindruckendes Bauwerk hin: den Wasserturm Nord. Das liegt daran, dass in dem um 1900 neu angelegten Kaiserviertel, so hieß das Paulusviertel zunächst, der Wasserturm-Nord als einer der Endpunkte mehrerer Blickachsen neben die Pauluskirche gestellt wurde.
Der sehr markante, das Stadtbild prägende Wasserturm Nord wurde in den Jahren 1897 bis 1899 unter Halles Stadtbaurat Ewald Genzmer errichtet. Den Entwurf lieferte freilich Heinrich Walbe. Der Architekt hatte für kurze Zeit das Amt des Stadtbauinspektors in der kommunalen Bauverwaltung inne.
Wasserversorgung für die expandierende Stadt
Notwendig wurde der Wasserturmbau, weil die Einwohnerzahl der Saalestadt Ende des 19. Jahrhunderts förmlich explodierte. Zählte die Stadt 1871 rund 60.000 Einwohner, waren es 1910 ca. 180.000! Zur Versorgung der neuen Stadtgebiete mit Wasser, auch in den oberen Stockwerken der Gründerzeithäuser, waren Wassertürme notwendig.
Das beeindruckende, 54 Meter hohe, aufwändig gestaltete und verzierte Bauwerk hat einen Sockel aus rotem Porphyr-Gestein. Darüber ist er aus gelben Klinkern sehr farbenprächtig gemauert. Der Schaft des runden Turms verjüngt sich nach oben und wird von einem ausladenden Turmobergeschoss bekrönt. Der in Eisenfachwerk ausgeführte Turmkopf ist geschweift und mit Schiefer gedeckt. Den Abschluss bildet eine Laterne.
Die seltsamen steinernen Meeresungeheuer am Fuß des Bauwerks stammen von den halleschen Bildhauern Friedrich Guth und Friedrich Mänicke. Der Hochbehälter im Turmkopf hat ein Fassungsvermögen von 1.500 Kubikmetern. Dies entspricht etwa 10.000 Badewannen. Er besteht aus einer, zu dieser Zeit modernen, Stahlblechkonstruktion von Professor Otto Intze (Intze-2-Behälter) und hat einen Durchmesser von 13 Metern. Insgesamt ist er elf Meter hoch.
Wasserturm Nord beherbergte Polizeistation mit Arrestzellen
Bis 1965 war der Turm in Betrieb, sogar eine Polizeistation mit zwei Arrestzellen befand sich mal darin. Erst nach der Inbetriebnahme des Fernwassernetzes zwischen dem Ostharz und der Elbaue war der Turm funktionslos. Schon in den 1980er Jahren wurde der Turm äußerlich saniert und damit gerettet. 1992 bis 1999 folgte die Komplettsanierung des Industriedenkmals.
Das technische Bauwerk ist, neben dem Wasserturm Süd und dem Wasserturm am Hauptbahnhof, das Markanteste der Stadt. Heute beherbergt es den Verein „Wassertürme der Stadt Halle e. V.“. Im Untergeschoss befindet sich eine kleine Sammlung historischer und kurioser Exponate aus der Wasserversorgung von Halle.
Der Architekt Ewald Genzmer (1856 bis 1932)
Den Namen Ewald Genzmer verbinden die Hallenser vor allem mit der gleichnamigen Brücke am Holzplatz. Seit 1904 trägt die im gleichen Jahr unter Genzmers Ägide errichtete Stahlfachwerk-Konstruktion über die Saale seinen Namen. Dies aus Dankbarkeit der Bürgerschaft und zu seinem Abschied: Der seit 1892 tätige Stadtbaurat wechselte nach Danzig.
Der bekannte Städtebauer und Hochschullehrer Ewald Genzmer ist im Jahr 1932 in Dresden gestorben. Er lebte seit 1915 in Radebeul. Der Saalestadt aber blieb Genzmer verbunden: Seinem Testament entsprechend wurde er auf dem halleschen Stadtgottesacker bestattet. Das Grab befindet sich im Innenfeld II.
Genzmer wurde 1856 in Boggusch, Kreis Marienwerder, als Sohn eines Rittergutsbesitzers geboren. Sein Bruder war der Kunstmaler Berthold Genzmer (1858 – 1927). Nach dem Abitur in Dortmund studierte er an der Berliner Bauakademie. 1885 bestand er die 2. Staatsprüfung zum Regierungsbaumeister (Assessor) mit Auszeichnung. Ab 1885 war er bei der Stadterweiterung von Köln unter Josef Stübben tätig, ehe er Stadtbaurat in Halle wurde.
Nach zwölf Jahren behördlicher Bautätigkeit in Halle war Genzmer von 1904 bis 1911 ordentlicher Professor für Städtebau und städtischen Tiefbau an der Technischen Hochschule Danzig. Er wechselte an die Technische Hochschule Dresden. Dort lehrte er bis 1925 städtischen Tiefbau und Elemente der Ingenieurwissenschaften.
Neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer entwarf Genzmer Bebauungspläne zur Stadterweiterung und Ortsentwässerungspläne für Städte im In- und Ausland. Durch den Ersten Weltkrieg wurde die Ausführung des schon erteilten Auftrages für Sankt Petersburg verhindert. Als einer der frühen Vertreter des modernen Städtebaus an der Schnittstelle zum städtischen Tiefbau hat er besonders die Entwässerung in den Dienst übergeordneter städtebaulicher Planungen eingefügt. Für Dresden entwarf er unter anderem als Projekt ein Metro-Netz.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Sehr geehrte Damen und Herren,
wieder ein interessanter Blick auf die Stadtgeschichte.
Das Ganze geschah in einer Zeit, da sich die Stadt mit Riesensätzen anschickte, ein modernes Industriezentrum zu werden. Neben dem Eisenbahnknoten entstanden vor dem 1. Weltkrieg u. a. diverse Maschinenfabriken, die Gasanstalt am Holzplatz, das Krankenhaus St. Barbara, das Diakonissenhaus, Kirchen und natürlich neue Wohnviertel. Dass nicht alle Planungen umgesetzt wurden, davon zeugt u. a. die Leostraße, mit 11 m die kürzeste Straße in Halle, wie seinerzeit die LDZ, die Liberaldemokratische Zeitung, feststellte. Die genannten Bauten sind beeindruckende Beispiele der damaligen Ästhetik.
Diese Planungen unterscheiden sie sich teils deutlich positiv von heutigen Plänen (ich denke an Esslingen, wo ich wohne): Frischluftschneisen, Kaltluftentstehungsgebiete etc. wurden offenbar berücksichtigt. Zu letzteren gehört zweifellos die große Fläche (Nordfriedhof!) am Wasserturm, der sicher nicht nur aus energetischen und Baukostengründen oder wegen seiner Schönheit auf der höchsten Erhebung im Stadtgebiet steht.
Was die Frage der Stadtentwässerung angeht: Das Problem wurde bereits im ausgehenden Mittelalter angegangen, aber aus meiner Sicht nicht spürbar weiter verfolgt. Das Problem wurde auf eine überzeugende Weise angegangen. Matthias Grünewald, dem eine Bronzetafel an der Konzerthalle Ulrichskirche gewidmet ist, hat einen würdigen Nachfolger gefunden …